Reihe 70 gegen das Vergessen

Vortrag von Wolfgang Beutin: Kurt Hiller - Der Publizist



Am 4.6.2008 referierte Dr. Wolfgang Beutin von der Hiller-Gesellschaft über Hillers Erlebnisse im Schreckensjahr 1933, im Gemeindesaal der St. Gertrudenkirche, Hildesheimer Straße, in Laatzen-Gleidingen bei Hannover.

Beutin führte u.a. aus: "Kein Ereignis in seiner langen Lebenszeit hat den Denker und Schriftsteller Hiller so irritiert wie die Erscheinung des deutschen Faschismus und seine Etablierung im Deutschen Reich. Weniges hat ihn so gründlich beschäftigt wie die Umstände der Aushändigung der Macht an den NS im Jahre 1933 [...] Sehr oft ging sein Blick zurück zum Jahr 1933, insbesondere zum ‚Tag der Schande', wie er ihn nannte - es war für ihn der 23. März 1933, als im Parlament das sog. ‚Ermächtigungsgesetz' beschlossen wurde, derselbe 23. März, an dem er selbst erstmals verhaftet wurde. Wichtige Passagen seiner Schriften beziehen sich auf die Zeitfolge, in welche jener ‚Tag der Schande' fiel, beziehen sich auf seine eigenen Erlebnisse in mehreren Haftanstalten und Konzentrationslagern des NS-Systems." Kurt Hiller hat in der Frankfurter Rundschau vom 22. März 1963 auf Seite 14 den halbseitigen Artikel "Der Tag der Schande. In Erinnerung an die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933" veröffentlicht. Dort wird ausführlich das Abstimmungsverhalten der damals noch zugelassenen Parteien dargestellt und kommentiert. Hiller führt aus, daß bei der Abstimmung des Diktatur-Gesetzes eine Zweidrittelmehrheit, nicht nur der bei der Sitzung Anwesenden, sondern der Gesamtzahl der Reichstagsabgeordneten erforderlich war. Sogar nach Ausschließung der Kommunisten benötigte Hitler daher die Stimmen des Zentrums und der Staatspartei. Hätten diese beiden wie die Sozialdemokraten mit "Nein" gestimmt, wäre das Gesetz gefallen. 1947 korrespondierte Hiller von London aus mit einem der liberalen Politiker, die an dem Vorgang teilgenommen und mit Ja gestimmt hatten. Es war Theodor Heuss (1884-1963), der 1. Präsident der Bundesrepublik Deutschland 1949-1959. Aus den brieflichen Angaben von Heuss (5. Dezember 1947 an Hiller) geht hervor, daß der ehemalige Reichsfinanzminister Hermann Dietrich und er selbst, Heuss, ein Nein bevorzugt hätten, desgleichen energisch auch die bekannte Politikerin Gertrud Bäumer, daß aber drei Mandatsträger ein Ja der Fraktion verlangten: Reinhold Maier, Heinrich Landahl, Ernst Lemmer (die alle nach 1945 in der Bundesrepublik Karriere machten). Heuss schrieb, daß vornehmlich die Beamten im Parteiausschuß die Abgeordneten beschworen, Ja zu sagen. Sie fürchteten, zu dem der Verfolgung am meisten ausgesetzten Menschenkreis zu gehören, wobei Verfolgungerfolgung Pensionierung mit geringeren Bezügen, Strafversetzung, Nichtbeförderung hieß.

Blick in den Gemeindesaal der St. Gertrudenkirche

v.l.n.r.: Thomas Prinz (Bürgermeister von Laatzen), Wolfgang Beutin, Andreas Neumann (Ortsbürgermeister von Laatzen-Gleidingen)

"Frau Zastrow aus Gleidingen hatte für ein angenehmes Ambiente und einen Imbiss gesorgt, so dass die knapp vierzig Besucher sehr aufmerksam und interessiert den Ausführungen des Tucholsky-Preisträgers folgen konnten. Wolfgang Beutin hatte den 1955 aus dem England-Exil zurückgekehrten Kurt Hiller an der Universität Hamburg persönlich noch als Student und später als Dozent kennengelernt und wusste somit auch aus erster Hand die eine oder andere persönliche Begegnung mit ihm zu schildern. Besonders eindrucksvoll war eine Tonbandaufzeichnung aus dem Jahr 1964, in der Hiller selbst seine Misshandlungen in der Haft durch die Nazischergen schilderte.
Nach dem Vortrag entwickelte sich, insbesondere durch die vielen Facetten der Person Kurt Hiller, der nur unter unglaublich glücklichen Umständen lebendig der Folterhaft entkam, eine angeregte Diskussionsrunde, die diese Veranstaltung der REIHE70 allmählich ausklingen ließ." (Andreas Neumann)

Zum 70. Jahrestag der Pogromnacht 1938 gestaltet die Stadt Laatzen eine Veranstaltungsreihe.

Unser Mitglied Corinna Luedtke ist an Planung und Organisation beteiligt.

Auftakt war am 29.4. im Ortsteil Gleidingen mit dem hannoverschen Synagogenchor und der Klezmerband "Shalom Chawerim" (siehe Veranstaltungsreihenprospekt der Stadt Laatzen).

Am 14.5. hielt Corinna Luedtke mit dem Schauspieler Wolfgang Scheiner eine Lesung in der Albert-Einstein-Schule ab, in der auch Texte über und von Kurt Hiller enthalten waren.

Das ganze Programm der Reihe auf: www.reihe70.de