Revolutionärer
Pazifismus

Freiheitlicher
Sozialismus

Das Erlebnis des 1.Weltkriegs, in dem u.a. Hillers befreundeter Dichterkollege Ernst Wilhelm Lotz fiel, verstärkte sein Engagement für den Pazifismus. Die Erhaltung des Lebens, als Fundament alles Weiteren, wurde zu einem der großen Themen in Hillers "Ziel"-Jahrbüchern. Hiller wurde aktives Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft und gründete 1926 eine eigene Pazifistenvereinigung, die "Gruppe Revolutionärer Pazifisten", bei der u.a. Kurt Tucholsky, Ernst Toller und möglicherweise auch Klaus Mann Mitglied waren.

In seinem Artikel "Anti-Kain" von 1919 zeigt sich Hiller als Absolutpazifist, der die Erhaltung des Lebens über alle anderen Werte setzt. Diesen Standpunkt revidierte er um 1923 dahingehend, daß er den Verfechtern einer sozusagen "guten Sache" zubilligte, ihre Errungenschaften gegen diese bedrohende Gegner mit allen Mitteln zu verteidigen. Ein Beispiel hierfür war ihm die Russische Revolution, bei der Hiller den Kommunisten zugestand, sich mit Waffengewalt gegen die Konterrevolution und gegen das monarchistische Polen verteidigen zu dürfen, der sozialistischen Erfolge zuliebe. Abstrakt ausgedrückt: den Bekämpfern der Toleranz darf keine Toleranz entgegengebracht werden. 

Diese Änderung der Anschauung im Bereich des Pazifismus nahm offenbar ihren Ausgang von einer zunehmenden Affinität Hillers für den Sozialismus.

Seine Rede auf dem Pazifistenkongress 1920 in Braunschweig begann Hiller mit den Worten: "Geehrte Kampfgenossen - oder meinen etwa einige unter Ihnen, dies sei eine unpassende Anrede an Pazifisten, da Pazifismus und Kampf einander ausschlössen? Dem würde ich aufs lebhafteste zu widersprechen haben. Pazifismus heißt nicht Friedfertigkeit. Wer meint, der Pazifist müsse, seiner Definition nach, ein friedlicher, sanftmütiger, durchaus nachgiebiger, toleranter Mensch sein, ein niemals opponierendes, sich auflehnendes, aggressives, gar zornentbranntes, vielmehr vom Honig der Eintracht und von allen Salben bedingungsloser Menschenliebe triefendes Demutsgeschöpf, der hat den Pazifismus gründlich mißverstanden . Pazifismus bezeichnet keine Lammesgesinnung und keine Betschwestertugend, sondern die kämpferische Bewegung für eine Idee. Für welche Idee? Nicht für die Idee, daß auf Erden zwischen Menschen und Menschengruppen Kämpfe aufhören, sondern für die Idee, daß auf Erden Kriege aufhören. Kampf und Krieg sind nicht synonym ."

"Die Urtatsache aller innern Erfahrung ist der Wille zum Leben. Er muß endlich durch die organisierte Gesellschaft, die ihn bisher in zahllosen Fällen vergewaltigt hat, anerkannt und geschützt werden. Den individuellen Mord zwar zum schwersten Verbrechen machen, ja selbst die notbefohlene Vernichtung von Embryonen bestrafen, aber die kollektive Tötung ausgereifter, gesunder Menschen zur gesellschaftlichen Pflicht erheben und organisieren - in diesem Widerspruch werden spätere Jahrtausende das Hauptmerkmal der Barbarei unsrer Aera erblicken. Der elementare Sinn aller Zivilisation: Schutz des Lebens, erweist sich bei uns Wilden, bei uns Primitiven um die Wende des zweiten christlichen Jahrtausends, als auch nicht annähernd erfüllt. Es ist aber an uns, die Entwicklung kräftig nach vorwärts zu stoßen."

"Längst gilt für die Einzelgeschöpfe im Staate, daß sie ihren Streit nicht gewaltsam austragen dürfen, nicht durch Kampf auf Leben und Tod, wie die Bestien; ihre Pflicht ist, sich an eine übergeordnete, ihrerseits mit der Pflicht zur Objektivität und zu gerechtem Urteil ausgestattete Instanz zu wenden, deren Entscheidung sie sich in ihrem wohlverstandenen eignen Interesse zu beugen haben: an das Gericht. Den Staaten ist die gleiche Haltung zuzumuten. Durch mühevolle Kämpfe der Vernunft, die noch nicht abgeschlossen sind, ist der Rechtsstaat leidlich stabilisiert; es ist an der Zeit, die Erd-Rechtsordnung, den Erdstaat der Rechtsstaaten einzurichten."

"So ist schon dem Staat von heute das Aufgeben seiner 'Souveränität', die Einordnung in ein System zwischenstaatlicher oder überstaatlicher Rechtsordnung zuzumuten, die Unterwerfung unter Sprüche eines internationalen Gerichts. Es ist wahr: ein internationales Gericht kann irren, kann einen Fehlspruch fällen - genau wie ein innerstaatliches Gericht. Und wenn! Selbst die Möglichkeit von Justizmorden gibt anerkanntermaßen keinen zureichenden Grund ab für die Beseitigung des Rechts, für das Faustrecht. Aber in einer internationalen Rechtsprechung wird der Justizmord oder das, was ihm unter Nationen entspräche, so gut wie unmöglich sein; sie wird, der innern Logik ihrer Existenz gemäß, stets zur Ausgleichung der Interessen hindrängen. Kommt eine Nation hierbei einmal zu kurz, so fährt sie immer noch besser, als wenn sie die Furien des Krieges entfesselt, als wenn sie durch Tod und Not ihre eigne Substanz schwächt und zerstört."

"Ich leugne weder Ehre noch Nation. Freilich, die echte Ehre der Nation fordert andres als den Mord. Sie fordert Solidarität im Erfüllen der ewigen Aufgabe des schöpferischen Geistes. Sie fordert Humanität. Sie fordert die Herstellung einer Ordnung, in der es Arbeit für Alle gibt, menschenwürdige Muße für Alle, Brot und Bad und Licht und Luft für Alle, Freiheit der Liebe für Alle, Zugang zum Geist für Alle. Die großen Forscher und Erfinder, die großen Ärzte und Erzieher, die großen Denker und Künstler, die großen Gesetzgeber, die Richter und Verwalter aus der Gesinnung der Gerechtigkeit und der Güte - das ist der Stolz, das ist die wahre Ehre der Nation, nicht die großen Feldmarschälle, selbst nicht die siegreichen!
Selbst die siegreichen Marschälle haben immer auch ihr eignes Volk zugrunde gerichtet."

"Ich wiederhole: es gab im Kriege Helden. Aber Held sein kann man nur aus eigner Bestimmung; und die große Mehrzahl derer, die fielen, fiel unter dem Zwang. Sie sind nicht als Helden zu besingen, sondern als Opfer zu beweinen. Und diese Mehrheit darf heute von den 'heldischen' Herren nicht etwa als Plebs und Philisterrotte abgetan werden; sondern innerhalb dieser Mehrheit gab es wertvollste Köpfe und Charaktere, gab es auch Helden, echte Helden: denen der Kriegstod die Chance nahm, ihr Heldentum zu bewähren, nämlich auf dem Felde ihrer Arbeit für Volk und Menschheit.
Wenn der Krieg wünschenswert und veranstaltenswert ist, weil er Gelegenheit zu heldischem Handeln bietet, dann sind auch Feuersbrünste, Überschwemmungen, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Schiffsuntergänge und Epidemien wünschenswert; denn sie alle bieten Gelegenheit zu heldischem Handeln; und wir wollen schleunigst die Cholera ausbrechen lassen!"

"Ich will Ihnen Beispiele von Heldentum nennen:
Der Kriegsgegner in Wehrpflichtländern, der aus Konsequenz den Militärdienst verweigert und seine Freiheit, sein bürgerliches Ansehen, seine Zukunft damit aufs Spiel setzt.
Der Arzt, der ein neues Serum an sich selber ausprobt, auf die Gefahr hin, sich zu zerstören.
Der Richter, der in einem Diktaturstaat gemäß seiner Überzeugung Urteile fällt, durch die er sich sein Grab gräbt.
Der Dichter, der, in voller Gleichgültigkeit gegen die Zeitströmung, der Gesinnung und Form nach so dichtet, wie sein denkerisches und künstlerisches Gewissen es ihm vorschreibt, mag er dabei auch verhungern.
Der Forscher, der in die Stratosphäre aufsteigt.
Der Lehrer, der antiwilhelminischen Geschichtsunterricht erteilt. Die Liste ist verlängerbar...
Held sein heißt auf pathetisch, was auf weniger pathetisch Charakter haben heißt. Je seltner die Charaktere geworden sind und je riskanter es wurde, einer zu sein, mit desto größerm Rechte darf man sie vielleicht Helden nennen. Sehr fraglich, ob alle Jene, die das Heldentum ständig auf der Zunge führen, es auch schon bewährt haben oder es bewähren würden, wenn sich ihnen die Gelegenheit bietet."

Für Hiller ist der Sozialismus die Grundlage, auf der sich der Geistesadel erst voll entfalten kann: "Wir müssen zuerst den Kapitalismus beseitigen, das heißt die Zins- und Erbwirtschaft abbauen, die Gesamtmasse der sozial notwendigen Arbeit gerecht verteilen und den Ertrag aller Arbeit, wir müssen einen umfassenden Apparat sich ins feinste verästelnder Kontrolle schaffen, müssen einen Apparat der Hilfe schaffen, müssen den Werdenden allen mit der einheitlichen Grundschule die gleichen Möglichkeiten des Aufstiegs geben, den Erwachsenen die Gewähr eines Minimums freier Zeit, - kurz, wir müssen die Gleichheit des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Ausgangspunktes für jedermann herstellen, die infamen künstlichen Schranken der natürlichen Auslese forträumen, die wechselseitige Gemeinbürgschaft aller stabilieren, jene Assekuranz, die auch dem Unlistigen und Schwachen im Daseinskampf immer ermöglicht, er selber zu sein, und ihm die Bahn zur übermateriellen Schau der Welt und zur überanimalischen Führung des Lebens, den Weg zum Geiste, offenhält." 

"Revolutionär ist man nicht deshalb, weil man zur Änderung sozialer Zustände Gewalt anwendet, sondern deshalb, weil man diese Zustände von Grund aus beseitigen, das bestehende Prinzip aufheben, ein neues an seine Stelle setzen will; weil man die Bestrebungen, unter Aufrechterhaltung des alten Prinzips nur reformierend an den Zuständen herumzuflicken, als unzulänglich verwirft."

"Jeder soll im Staate des freiheitlichen Sozialismus ein Recht auf Arbeit und ausreichende Freizeit haben; Mindestlöhne sollen gesichert, ungerechtfertigt hohe Einkommen untersagt sein. Keine Gleichmacherei, doch eine Maximierung des Entgelts."

"Aller parteihaft organisierte Sozialismus wird armselig und hoffnungslos sein, wenn er sich selber nicht auffaßt und propagiert als eine Bewegung zu universaler Erneuerung; zur Realisierung des Koexistenzbildes, das in den jeweils feinsten, fortschrittlichsten, höchstgestuften Hirnen der Zeit als Idee lebt. Wer das Wirtschaftlich-Materielle als verächtlich, auch bloß als nebensächlich behandelt, ist kein Sozialist; wer es, mit Giftblick nach anderen Seinsseiten hin, als exklusiv einzigen Gegenstand sozialistischer Sorge anerkennt und anerkannt wissen will, das Urteil über den Rest der gesellschaftlichen Probleme den Genossen freigebend und mithin zur Privatsache machend, in Wahrheit zur konservativen Sache, der schädigt die sozialistische Aktion in genau dem Grade, in der er ihr zu nützen glaubt."

"Was nützt eine Änderung der Besitzverhältnisse, selbst die Abschaffung der Armut, wenn einen Tag nach der Entpauperisierung der Gesellschaft der Planet Erde durch Erdianer in den Äther gesprengt wird... nämlich durch die Idiotokratie auf Erden? Die Entpauperisierung der Gesellschaft und die Vernichtung der Idiotokratie sind parallele Aktionen. Zwischen Abschaffung der Armut und Abschaffung des Krieges bestehen unterschiedliche Kausalzusammenhänge."

"Die Doktrin der Marx und Engels, der Kautsky und sonstigen Epigonen krankte an drei Hauptfehlern:
Erstens an monomaner Auffassung des Geschichtsverlaufs. Die Doktrin sah nur die Klassenkämpfe, nicht die Rassenkämpfe, nicht die Kämpfe zwischen den Nationalismen, nicht die typologischen Kämpfe, nicht die ideologischen Kämpfe. Soweit sie sie sah, leugnete sie deren spezifische Kausalität und verlegte sie in die Spiegelwelt des von ihr so genannten Überbaus, während die wahre, wirkliche Ursache durchweg im ökonomischen Fundament zu suchen sei.
Zweitens krankte die Lehre am Fehlen aller Psychologie, höflicher gesagt: an der Primitivität ihrer Psychologie. Sie begriff nicht, daß der Mensch keineswegs einzig nach dem Befehl des Hungers, des Wohn-, des Wärmetriebs und seiner sonstigen wirtschaftlichen Nöte und Bedürfnisse handelt, sondern daß zweitens im Sexus, drittens in der Getriebenheit durch ein geistiges Muß und viertens im Willen zur Macht durchschnittlich gleich kräftig sprudelnde Quellen des Verhaltens entspringen, manchmal schwächere, gewiß, oft aber auch stärkere. Die Kausalität des individuellen und daher auch des kollektiven Handelns ist ein reichlich buntes Mosaik. Die materialistische, will sagen ökonomistische Geschichtsauffassung vereinfacht; sie vereinfacht horrend und grotesk das Verwickelte. Sie pfuscht.Drittens machte sich die marxistische Doktrin unannehmbar für Denkende, weil sie von Hegel zwar nicht seine verschrobene Ontologie, wohl aber seinen Methodenmonismus, sein Attentat auf die Deontologie, seine Erwürgung der Ethik, seine Aufhebung der von Kant vollzogenen Diathese zwischen Seiendem und Seinsollendem übernommen hatte. Eben hierdurch wurde der Marxismus trotz seinem revolutionären Element zu einer, tiefer besehen, gleich hemmenden, gleich reaktionären Kraft wie der Hegelianismus selbst, dem er entwachsen war."

"Der Marxismus stößt Menschen ab, statt sie zu gewinnen; statt aus den kosmischen Nebeln ihrer Gefühle und Ideen jene Werte herauszusondern, die gesunde Substanz sind, verspottet er Gefühl und Idee, Adel und Gefolgschaft und den Wert jeder Bindung außer der an die Klasse; pocht er auf seine erbärmliche Enge. 'Alle Versessenheit und Verbohrtheit, alle Unduldsamkeit und einsichtslose Ungerechtigkeit und all das hämische Wesen, das fortwährend aus den Wissenschafts- und Parteiherzen der Marxisten zutage tritt' (die Worte stammen von Gustav Landauer!), sind schuld daran, daß Millionen zum Sozialismus Reife leider vom Aftersozialismus, vom Nationalsozialismus, abgefangen werden konnten."

"Es gibt zwei Märxe: den Marx vor Engels und den Marx seit Engels. Marxismus ist die Doktrin des Marx seit Engels. Man kann uns, wenn wir ihn darstellen, nicht widerlegen durch Zitierung von Äußerungen des Marx vor Engels. Zwischen ihnen und den spätern schlängelt sich kein Serpentinpfad der Entwicklung, sondern klafft der Abgrund des Widerspruchs. An den Marx vor Engels können und sollen wir anknüpfen; und selbst der marxistische Marx, der seit Engels, bleibt (auf der Grundlage einer falschen Philosophie) ein echter Revolutionär, der, als solcher, uns teuer ist. Er lehnt Zielsetzung ab; dennoch entdecken wir ohne Mühe ein politisches Ziel: das sozialistische, als all seinem Denken und Tun immanent. Er lacht über Idee, Gerechtigkeit, Freiheit, sittliche Vernunft; dennoch leben seine 'wissenschaftlichen' Analysen und Prognosen von der in ihm glühenden Idee, eine Gesellschaft zu verwirklichen, in der endlich Gerechtigkeit herrscht gegen jedermann, Freiheit statt Sklaverei, und der jene sittliche Vernunft das Gesetz gibt, die keine Privilegien der Geburt zuläßt und die Gerissenheit im Ausbeuten des Mitmenschen nicht länger belohnt. Marx leugnete dies Feuer in seiner Brust; es brannte dennoch."

"Wir freiheitlichen Sozialisten sind Sozialisten um der Gerechtigkeit willen, um der Wirtschaftsvernunft willen, um der Auslese willen, nicht zuletzt auch um des dauernden Völkerfriedens willen; und vielleicht sind wir damit selber eine Brücke zwischen den Sozialisten des puren Klasseninteresses und den Freiheitlern, den Befeuerten, den Ideenmenschen ganz andrer Klassen und ganz andrer politischer Distrikte."

"Unter Freiheit verstehen wir, für Menschen im Staat und für Nationen untereinander, fürs Leibliche wie fürs Geistige, die in den Grenzen des Rechts der anderen erdenklich größte Unbehindertheit in der Gestaltung des eigenen Lebens. Freiheit und Sozialismus sind nicht, wie der kollektivistische Mucker behauptet, Begriffe, die sich ausschließen. Sie sind vielmehr Begriffe, die sich ergänzen. Freiheit für alle, statt einzig für die Privilegierten einer Klasse, ist der Zielsinn des Sozialismus"

"Ein Jahr vor meiner Kampagne für die Reichspräsidentschaft Heinrich Mann's [1932] hatte ich versucht, als Brücke zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten einen Bündebund (ein Kartell) revolutionär-sozialistischer Gruppen zu gründen, also eine Union jener häßlich und überheblich als 'Splittergruppen' verspotteten kleinen Organisate, die es außer den beiden Großparteien links gab." Dieser Plan Hillers scheiterte ebenso wie spätere Versuche im Prager und Londoner Exil. Die Quittung dafür: nach dem Kriege kamen in der Bundesrepublik die Konservativen an die Macht, nicht die Linken.